(2004) VIII, 208 Seiten mit 8 Abbildungen; Format 20,5 x 26,5 cm; Broschur; ISBN 3-910060-57-9; 24,00 € online bestellen
»Meine Absicht war, nichts zu schreiben, was schon geschrieben ist: ferner etwas zu machen, da ich so lange gewartet
und alles gelesen was an das Licht getreten ist in allen Sprachen über die beiden Künste, das einem Original ähnlich
werden möchte, und drittens nichts zu schreiben, als wodurch die Künste erweitert werden möchten.«
Winckelmann an Konrad Friedrich Uden, 3. Juni 1755
Winckelmann liebte es, sich als einen radikalen Neuerer darzustellen, der mit den überkommenen Mustern des kunstgeschichtlichen
und ästhetischen Diskurses gebrochen habe – ein Selbstbild, das von der Nachwelt gerne übernommen wurde.
Die Untersuchung der umfangreichen, von Winckelmann zeit seines Lebens zusammengestellten Exzerpthefte erlaubt es,
dieses Selbstbild zu hinterfragen und die intensive Auseinandersetzung des Autors mit der Tradition präzise zu
analysieren. Anhand seiner Exzerptsammlung ist es möglich, Winckelmanns Bildungsgang zu rekonstruieren, seine Kenntnis
der verschiedenen gelehrten Disziplinen zu kartographieren und die fruchtbare Spannung zu ermessen, die bei ihm
zwischen dem Lesen von fremden und dem Verfassen von eigenen Texten entsteht.
"Winckelmann selbst hat seine Rolle als Neuerer stets betont. »Meine Absicht war«, teilte er 1755 aus Anlaß seiner
ersten Veröffentlichung, der »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Malerei und Bildhauerkunst«,
mit, »nichts zu schreiben, was schon geschrieben ist; ferner etwas zu machen, das einem Original ähnlich werden möchte.«
Zwar haben jüngere Forschungen dieses Bild korrigieren können und Winckelmanns Verwurzelung in der Wissenschaftsgeschichte
des 18. Jahrhunderts nachgewiesen. Aber der Glaube, daß er in der Geschichte des Geschmacks wie der Wissenschaft einen
Bruch vollzog, hält sich zäh.>BR>
Nun ist endlich auch auf deutsch ein Buch erschienen, das die Winckelmann-Legende endgültig verabschiedet. In Élisabeth
Décultots ›Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften‹ erscheint der ›neue Kolumbus‹, wie Goethe ihn nannte, als ein
stark der Tradition verhafteter, manchmal anachronistischer Autor, der seinen Auftritt als den eines Revolutionärs
inszenierte – und damit in der Tat eine Revolution auslöste. Winckelmanns Schriften bersten vor Widersprüchen, leben
von unvereinbaren Gegensätzen, Paradoxien, sprunghaften Argumentationen.
Anders als eine lange Tradition es bisher hat sehen wollen, besteht die Originalität Winckelmanns nicht in der Formulierung
einer kohärenten Lehre, sondern im faszinierenden Kollagieren von Texten und Denkweisen, in der erkennbaren Ablagerung
von fremden Vorstellungen, die eine neue und eigene Ordnung erhalten. Den ›elenden Scribenten‹ verdankt dieser Autor
mehr, als seine heftige Polemik ahnen läßt."
Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung 11. 2. 2005
Wird also der wegweisende Interpret der griechischen Kunst durch die Aufdeckung seiner »Exzerpierwirtschaft« entmythologisiert?
Die eigentliche Originalität Winckelmanns liegt in seiner Werkstrategie, in den unermüdlichen Neuanfängen, im Feinschliff
des Erborgten. Während bei La Bruyère von dem Vollkommenen die Rede war, das es nachzuahmen gelte, sprach Winckelmann
von der Nachahmung des Unnachahmlichen. Damit gab er der Sentenz einen völlig neuen Akzent. Dies war Sprengstoff. Denn
gerade durch die Verherrlichung des Prinzips der Nachahmung bereitete er dessen Verabschiedung vor. Mit der Wünschelrute
der Exzerpthefte durchstreift die Verfasserin das gesamte Werk Winckelmanns. Man wird es neu lesen müssen und erkennen,
daß es nicht jenes klassische Bild mit klaren Konturen zeigt, das von seinem Gegenstand suggeriert wird, sondern ein
bewegliches Gebilde ist: das Argonautenschiff, das während der Fahrt ständig erneuert wird.
Henning Ritter, F.A.Z. 21. 3. 2005